Stell dir vor, du bist auf einer Party. Plötzlich eskaliert ein kleiner Streit. Am nächsten Tag fragst du drei verschiedene Leute, was passiert ist. Und was hörst du? Drei völlig unterschiedliche Versionen! Jeder hat seine eigene Perspektive, seine eigenen Emotionen, seine eigenen Erinnerungen. Niemand lügt bewusst, aber die „wahre“ Geschichte scheint unmöglich zu rekonstruieren.
Genau das, nur auf globaler, jahrtausendalter Ebene, ist das, was wir als Geschichtsschreibung kennen. Heute möchte ich mit dir über eine der faszinierendsten und wichtigsten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft sprechen: die Unmöglichkeit einer wirklich objektiven Geschichtsschreibung. Das ist keine deprimierende Botschaft, sondern eine unglaublich positive, befreiende und ermutigende! Es bedeutet, dass Geschichte nicht einfach nur eine Ansammlung von Fakten ist, sondern ein lebendiger, dynamischer Prozess, an dem jeder von uns teilnehmen kann.
Warum das „Was wirklich geschah“ ein Mythos ist
Wenn wir an Geschichte denken, haben wir oft Bilder von trockenen Schulbüchern im Kopf, die uns eine feste Abfolge von Ereignissen, Daten und Namen präsentieren. Die „offizielle“ Geschichte. Aber diese scheinbare Objektivität ist eine Illusion. Hier sind ein paar Gründe, warum das so ist:
- Die Auswahl der Fakten: Geschichte ist nicht das, was passiert ist, sondern das, was dokumentiert, erhalten und ausgewählt wurde. Jedes Geschichtsbuch beginnt mit einer Auswahl. Welche Ereignisse sind wichtig genug, um erwähnt zu werden? Welchen Menschen wird eine Stimme gegeben, welchen nicht? Die Entscheidungen darüber werden von Historikern getroffen, die wiederum von ihrer Zeit, ihrer Kultur und ihren eigenen Überzeugungen geprägt sind. Die Geschichte der Sieger ist ein bekanntes Beispiel dafür, wie bestimmte Perspektiven dominant werden, während andere, die der Unterdrückten oder Besiegten, oft verstummen.
- Die Quellen sind nicht objektiv: Stell dir vor, du schreibst die Geschichte des Alten Roms. Deine Quellen sind die Aufzeichnungen von römischen Historikern, die oft in Diensten von Kaisern standen. Diese Berichte sind voller Propaganda, politischer Absichten und persönlicher Meinungen. Sie sind alles andere als neutral! Und das gilt für die meisten historischen Quellen. Ein Tagebuch, ein Brief, ein Zeitungsartikel – all das ist immer die Perspektive einer Einzelperson oder einer Gruppe, nie die universelle Wahrheit.
- Die Sprache formt die Realität: Sprache ist kein neutrales Werkzeug, um die Realität zu beschreiben. Sie erschafft die Realität. Wie bezeichnen wir ein Ereignis? War es eine „Revolution“ oder ein „Aufstand“? Waren es „Freiheitskämpfer“ oder „Terroristen“? Die Worte, die wir wählen, sind niemals zufällig. Sie tragen eine Bewertung in sich und beeinflussen, wie wir und andere die Vergangenheit sehen und verstehen.
- Der Historiker als Mensch: Historiker sind keine unpersönlichen Roboter, die einfach nur Daten sammeln. Sie sind Menschen mit eigenen Biografien, Werten, Vorurteilen und Fragestellungen. Ein Historiker, der in der DDR aufgewachsen ist, wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders interpretieren als ein Historiker aus den USA. Jede Generation stellt der Vergangenheit neue Fragen, weil sie selbst in einem anderen Kontext lebt. Der Historiker ist immer ein Kind seiner Zeit.
- Die Lücken in der Geschichte: Die Geschichte ist voller riesiger Lücken. Ganze Zivilisationen sind verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Geschichte der einfachen Menschen, der Frauen, der Kinder, der Minderheiten ist oft nur lückenhaft überliefert, weil die historischen Quellen meist von einer kleinen, privilegierten Elite verfasst wurden. Die Stille in der Geschichte ist genauso bedeutsam wie das, was wir wissen.
Warum das gut und befreiend ist!
Die positive Seite der Subjektivität
Die Erkenntnis, dass es keine objektive Geschichtsschreibung gibt, mag auf den ersten Blick entmutigend wirken. Aber in Wahrheit ist sie eine der schönsten und wichtigsten Einsichten überhaupt! Sie befreit uns von der Illusion einer einzigen, „richtigen“ Version der Vergangenheit und eröffnet uns eine Welt voller Möglichkeiten.
- Geschichte wird lebendig: Geschichte ist kein totes, abgeschlossenes Buch, sondern ein lebendiges Mosaik, das ständig neu zusammengesetzt wird. Die Vergangenheit ist nicht festgelegt, sondern unser Verständnis von ihr verändert sich. Das macht Geschichte so spannend! Es ist ein ewiger Dialog zwischen uns und den Generationen vor uns.
- Du bist Teil des Ganzen: Wenn Geschichte ein Mosaik ist, dann ist dein Blick auf die Welt, deine persönliche Geschichte und deine Perspektive ein einzigartiges, wichtiges Puzzleteil. Du bist nicht nur ein passiver Konsument der Geschichte, sondern ein aktiver Teil ihres Flusses. Deine eigenen Erfahrungen formen, wie du die Welt siehst, und das ist ein wertvoller Beitrag!
- Lerne, kritisch zu denken: Diese Erkenntnis ist eine Einladung, nicht einfach alles hinzunehmen, was dir in Büchern oder Nachrichten präsentiert wird. Sie ermutigt dich, Fragen zu stellen: „Wer hat das geschrieben? Aus welcher Perspektive? Was wird weggelassen? Welche Absicht steckt dahinter?“ Das ist der Kern des kritischen Denkens und eine der wichtigsten Fähigkeiten, die du entwickeln kannst.
- Neue Stimmen entdecken: Die Suche nach einer „anderen“ Geschichte, nach den Stimmen, die unterdrückt oder vergessen wurden, kann unglaublich bereichernd sein. Das Lesen von Romanen aus anderen Kulturen, das Hören von Geschichten von Minderheiten oder die Beschäftigung mit oralen Traditionen eröffnet dir völlig neue Welten und ein tieferes Verständnis für die menschliche Erfahrung.
- Verbindung statt Trennung: Die Geschichte, so wie sie oft erzählt wird, trennt uns in „gut“ und „böse“, in „Wir“ und „Die“. Wenn du aber erkennst, dass jede Erzählung subjektiv ist, kannst du lernen, die Geschichte des „Anderen“ zu verstehen und dich in seine Perspektive hineinzuversetzen. Das schafft Empathie und Verbindung statt Trennung.
Dein persönlicher Weg zur Geschichte
Die Unmöglichkeit der objektiven Geschichtsschreibung ist also keine Sackgasse, sondern der Beginn einer wunderbaren Reise. Wie kannst du sie in deinem eigenen Leben integrieren?
- Lies aus verschiedenen Quellen: Wenn du dich mit einem historischen Thema beschäftigst, lies nicht nur ein Buch. Suche nach Texten von Historikern aus verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen politischen Hintergründen und aus unterschiedlichen Generationen.
- Erforsche die „andere Seite“: Suche aktiv nach den Perspektiven, die oft übersehen werden. Lies die Geschichte aus Sicht der Besiegten, der Frauen, der Ureinwohner oder der Unterdrückten.
- Denke über deine eigene Geschichte nach: Reflektiere über deine eigene Familiengeschichte. Wer hat sie dir erzählt? Was wurde weggelassen? Was sind die „weißen Flecken“? Das hilft dir zu verstehen, wie Geschichte auch in deinem eigenen Leben funktioniert.
- Erkenne die Geschichte in der Gegenwart: Erkenne, dass die Geschichte nicht in der Vergangenheit abgeschlossen ist. Sie formt die Welt, in der du heute lebst. Wenn du die Vergangenheit verstehst (mit all ihren verschiedenen Perspektiven), kannst du die Gegenwart besser verstehen.
Geschichte als Einladung zum Dialog
Die Geschichte ist keine einfache, geradlinige Erzählung, sondern ein komplexes, vielschichtiges Gebilde, das ständig neu interpretiert wird. Die Erkenntnis, dass eine wirklich objektive Geschichtsschreibung unmöglich ist, ist nicht das Ende der Wahrheit, sondern die Einladung zu einem tieferen, lebendigeren und menschlicheren Verständnis von ihr.
Es ist eine Einladung zum kritischen Denken, zur Empathie und zur Erkenntnis, dass jeder von uns ein wichtiger Erzähler und Zuhörer im großen Chor der menschlichen Geschichte ist. Sei neugierig, sei offen und trau dich, die großen Fragen zu stellen. Denn die wahre Kraft der Geschichte liegt nicht in den Fakten, sondern in dem, was wir aus ihnen machen.
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